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Ausbildungsinstitut perspectiva

perspectiva Impulse

Von Gegenwartsschrumpfung und Zeit-Inseln

Der Soziologe Hartmut Rosa zeichnet in «Beschleunigung und Entfremdung» ein düsteres Bild der gegenwärtigen Gesellschaft, in der sich Beschleunigung selbst antreibt, zeitliche Normen unbemerkt dominieren und soziale Entfremdung zunehmend Konzepten «guten Lebens» entgegensteht.

Die enorm gesteigerte Geschwindigkeit von Transport-, Kommunikations- und Produktionsprozessen lassen auch soziale Orientierungsmuster und Konstellationen instabil und kurzlebig werden. Rosa spricht von beschleunigtem Verfall der Verlässlichkeit: Erfahrungs- und Erwartungshorizonte verkleinern sich, Stabilität und Orientierung sinken, die sicher überschaubare «Gegenwart schrumpft».

In der Wahrnehmung von Individuen zeigt sich die Beschleunigung auch als Zunahme des Lebenstempos: Wir tun markant und messbar mehr in weniger Zeit.

Dabei sind die zentralen Antreiber für Rosa nicht etwa die Technik selbst, sondern die sozialen Logiken von Wettbewerb und Leistung als vorherrschende gesellschaftliche Prinzipien. Diese werden in einer säkularen Gesellschaft noch verstärkt: Wenn die zentrale Bedeutung dem Leben vor dem Tod zugeschrieben wird, richtet sich alles Streben auf Angebote und Möglichkeiten dieser Welt, die maximal ausgekostet werden müssen.

Paradoxerweise werden wir von der durch die Beschleunigung explodierenden Zahl an Optionen im Verhältnis immer weniger davon realisieren und mehr verpassen, egal wie schnell wir werden.

Da in unserer pluralistisch komplexen Gesellschaft aber bindende soziale und kulturelle Normen erodieren, sind unbemerkt zeitliche Normen als eine «Rhetorik des Müssens» bestimmend geworden. Das Fehlen gesellschaftlich leitender Visionen führt daher zu Wahrnehmungen von individuellem Leben als «Hamsterrad» sowie gesellschaftlichem Wandel als «rasendem Stillstand», so Rosas Metaphern für ziel- und richtungsloses Schneller und Weiter. Entsprechende Entfremdungserscheinungen und Pathologien sind die Folge, wie z.B. Burnout und Depressionen auf individueller und undurchdacht-impulsiver politischer Aktionismus auf gesellschaftlicher Ebene.

Hartmut Rosa belässt es – gut soziologisch – bei der Gegenwartsdiagnose. Es ist an uns, auf dieser Basis weiterzudenken. Als Mediatorin und Supervisorin erlebe ich z.B. diese Formate, aber auch Weiterbildung, als wertvolle Zeit-Inseln, die Menschen anregen, über eigene Kontexte zu reflektieren, sich auszutauschen, Orientierung und sinnhafte Schritte zu finden. Ich meine, wir brauchen mehr davon.